ÜBER DIE LÖCHER
Vladimiro Caporrella
Ich möchte damit beginnen, von Löchern zu reden. Als Augenzeuge kann ich Ihnen versichern, dass nicht eine dieser glatt polierten bronzenen Oberflächen, die Sie hier vor Augen haben, ohne mindestens ein unvorhergesehenes Loch zur Welt gekommen ist.
Das Loch als Symbol der Unvollkommenheit, sowohl des Gusses als auch der Kunst selbst, ist der absolute Herrscher der Gießerei – jedenfalls der unseren. Ich gehe davon aus, dass der größte Teil der Leser dieses Textes noch nie beim Gießen von Bronze gegenwärtig war.
Um es kurz zu machen, es funktioniert etwa so: Der Künstler schafft das Modell, dann macht man aus mit Harz vermischtem Sand einen sogenannten »Formkasten«, also ein Behältnis für die Negativform des Modells, das tatsächlich mehr oder weniger wie ein Kasten aussieht, den man auch wirklich öffnen kann. Das Modell wird aus dem Formkasten herausgenommen, es bleibt ein Hohlraum zurück, den das Modell – oder besser seine Form – eingedrückt hat. Dann wird der Formkasten geschlossen und oben mit einem Loch versehen, das mit dem Hohlraum verbunden ist. In dieses Loch gießt man die flüssige Bronze, die sich beim Hineinfließen in der vom Modell hinterlassenen hohlen Form ausbreitet. Natürlich habe ich vieles ausgelassen, was in der Zwischenzeit vor sich geht.
Das Gießen von Bronze ist eine ermüdende Sache. Und daher besteht die Arbeitsphase unmittelbar nach dem Guss im Öffnen eines Bieres. Die Zeit, die man benötigt, um ein Bier zu trinken, reicht normalerweise, damit sich die Bronze im Formkasten abkühlt. Dann folgt die »Eröffnung«. Der Formkasten liegt auf der Erde, außen herum steht, wer beim Guss dabei war: vor allem der besorgte Künstler, der wohl schon ein paar Kreise um sein zukünftiges Objekt gezogen hat. Während der Formkasten langsam aufgemacht wird, neigen alle ein wenig den Kopf um so früh wie möglich zu sehen »wie’s geworden ist«. Doch was sie wirklich sehen wollen, weil sie es insgeheim alle erwarten, ist das Loch. Natürlich hofft man, dass die Skulptur keines hat, aber in Wirklichkeit sind sie alle da, weil sie nur darauf warten – es ist sozusagen eine unheilschwangere Erwartung.
Der Formkasten wird geöffnet, aller Augen gehen rasch über das Stück: und da! Das Loch in der Bronze offenbart sich den Blicken. Es folgt eine Phase, in der sich alle um den Formkasten scharen und anfangen, über das Loch zu reden: wie man es ausmerzen kann, warum es zu Stande gekommen ist – es liegt wohl am Metall, das zu heiß war, oder zu kalt, nein, vielleicht war es ein Luftzug, ach was, das zu fein gearbeitete Modell hat Schuld, oder … .
Also, alle stehen um es her, begutachten es und diskutieren darüber: die Skulptur wird beinahe nebensächlich, der wahre Held des Gusses ist das Loch. Was mich aber immer besonders beeindruckt, ist die Verwunderung, die sich breitmacht, wenn ein Guss ohne Loch herauskommt.
Der Künstler beginnt, die Skulptur sauber zu machen, um zu sehen, ob da tatsächlich kein Loch ist, vielleicht unter dem verbrannten Sand, wenigstens ein Loch, ein ganz kleines muss doch da sein!
Es ist fast, als brächte es Unglück, der Unabwendbarkeit des Lochs die Stirn zu bieten. Ein Philosoph würde Ihnen in Anbetracht des Lochs in der Skulptur erklären, es stelle die Unumgänglichkeit des Unvollkommenen dar, oder besser, die Unvollkommenheit des Daseins selbst trete hier zu Tage. Der Gießer dagegen flucht beim Anblick des Lochs. Mein Vater allerdings weniger, er ist ein besonderer Gießer, denn er ist außerdem Schweißer: damit kann er für nichts weniger gelten als einer, der Getrenntes zusammenführt und weiß, wie leere Räume auszufüllen sind.
Beim Anblick des Lochs verliert er seine Fassung nicht, geleitet von seiner an Goethe gemahnenden Maxime – »was man nicht vermeiden kann, muss man wiedergutmachen«. Doch wenn es diese Löcher gibt, dann hat doch eigentlich niemand anders Schuld, als die Künstlerschaft selbst, darunter auch die Leute in unserer Gießerei, die irgendwann einmal in ihrer künstlerischen Laufbahn beschlossen haben, ihre Arbeiten in Bronze auszuführen. Es liegt an Ihnen, liebe Leser, sie zu fragen, warum sie sich gerade für dieses Metall entschieden haben.
Für mich war die Sache von jeher klar: seit ich, noch als Kind, die kunterbunte wirre Gesellschaft der Künstler kennen gelernt habe, die in der Küche meiner Mutter aus- und eingingen, schien es mir offensichtlich, dass sie mehr oder weniger alle etwas »bronzezeitlich« waren. Wenn Sie genauer wissen wollen, was ich meine, dann versuchen Sie nur, ein paar Künstler eine Woche am Stück zu sich zum Mittagessen einzuladen. Apropos Bronzezeitalter. Bronze war eines der ersten Metalle, das die Menschheit für ihre Zwecke verwendete. Für das frühgeschichtliche Zeitalter vom Ende des 3. bis zum Anfang des 2. Jahrhunderts vor Christus, das ihr seinen Namen verdankt, ist die Entdeckung der Bronze für die Herstellung von Waffen und häuslichen Schmuckgegenständen grundlegend gewesen. In der Folge begann man dann, dieses Metall für künstlerische Zwecke zu verwenden. Es scheint mir bedeutungsvoll, dass die Bronze, mit der wir heute Skulpturen herstellen, wie sie hier einige vor sich haben, ursprünglich für Schwerter und Töpfe verwendet wurde – also für »Krieg« und »Küche«.
Aus der Mitte jener Dinge, die am tiefsten im Menschen sitzen, den Urtrieben und dem Magen, entsteht also die Kunst.
Ich überlasse es den Anthropologen, Kunstkritikern und Ihnen allen als Kunstkennern, darüber nachzudenken, was der tatsächliche Zusammenhang zwischen dem Werk des Künstlers und seinen Instinkten sowie zwischen Werk und Künstlermagen sein könnte. Sicher ist nur, dass diese Elemente auch heute noch sehr eng zusammenhängen.
Wenden wir uns von den Löchern im Bauch ab und kommen wir zurück zu den eher »philosophischen« Löchern. Es gibt viele, die annehmen, dass unser Leben von einem Loch abhängt, um das sich alles dreht. In dem berühmten Roman «Der Mann ohne Eigenschaften« von Robert Musil sagt die weibliche Hauptfigur Clarisse – die nach dem Modell der Philosophie Nietzsches gearbeitet ist – das Leben sei wie ein Ring: ein unablässiges Kreisen um eine Mitte, die unerreichbar bleibt, weil sie eigentlich gar nicht existiert. An ihrer Stelle ist nur ein Loch.
Die Idee des Lebens als unaufhörlicher Bewegung ist Ausgangspunkt für eine weitere, vielgebrauchte Metapher der menschlichen Lebenswirklichkeit: »pantha rhei«, »alles fließt«, wie Heraklit schon sagte. Nichts lässt sich aufhalten, das Leben ist wie ein Fluss, der es uns nicht erlaubt, zweimal in die selben Wasser zu steigen. War es nicht genau das – einen Lebensaugenblick festzuhalten und ihn ewig zu machen – was die Kunst immer schon wollte? Es gibt ein schönes italienisches Lied, in dem von dem Versuch die Rede ist, mit Hilfe der Kunst das Leben und Sterben kapieren zu wollen … .
Verstehen – capire – kommt vom lateinischen capio, »ergreifen, nehmen, festhalten«. Man hat den Verdacht, dass die Kunst oft diesen faustischen Ehrgeiz hat, das Leben zu erklären, und damit auch das, woraus sie selbst kommt.
Und um das Leben zu verstehen, ergreift und fixiert die Kunst es, sie bindet es an ein Material, um es dem Fließen des Flusses zu entreißen, als könne das der Welt hinterlassene Kunstwerk eine Art »Zeitloch« werden. In einem Moment der Selbstüberhöhung schrieb Horaz in Bezug auf sein eigenes poetisches Werk: »ich habe ein Denkmal hinterlassen, das dauerhafter ist als Bronze.« (exegi monumentum aere perennius). Die Bronze stand für ein Material, das ewig dauern kann, weil es den atmosphärischen und geschichtlichen Unbilden Widerstand zu leisten vermag.
Vielleicht leben manche Menschen ihr Leben deswegen nie richtig aus, weil sie etwas hinterlassen wollen, was sie überdauert? Etwas, das ist wie ein Zeitloch? Auch wenn heute die Kunst vom Wetter nichts mehr zu befürchten hat, möchte man sich doch fragen, ob hinter den Werken dieser Künstler nicht vielleicht doch noch die Idee der Bronze als »aere perennius« steht, oder die Idee der Kunst als etwas, womit man die Zeit durchhöhlen kann.
Wenn das so ist, dann wären ja die Bestrebungen des Künstlers von den unseren gar nicht so weit weg: etwas zu hinterlassen, das in der Zeit bleibt und nicht vom Fluss fortgetragen wird. Wir schauen dem Fluss zu und werfen dann einen Stein ins Wasser, in der Hoffnung, sein Einschlag möge sichtbar bleiben. Und manchmal bleibt er es wirklich.
Ich werde mit dem letzten Loch schließen, über das ich mir zu sprechen vorgenommen habe. Ich weiß nicht, warum (sie können das hier ja persönlich fragen), aber mein Vater, eine Handvoll Arbeiter und ein paar Künstler hatten sich in den Kopf gesetzt, die Silvesternacht mit Bronzegießen zu verbringen. Welchen Sinn das haben sollte, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich hatte jeder von ihnen eine andere Erklärung dafür. Ich weiß nur, dass ich mich in einen Zug setzte, der überfüllt war von Leuten, die alle irgendwohin wollten, nur nicht zu sich nach Hause und dass ich geradewegs in unserer Gießerei ankam.
Sie müssen wissen, dass eine Gießerei ein sehr lauter Ort ist: der Lärm der Flex, die schneidet, der Fräsen, die glattschleifen, der Schmelzöfen, welche die Teile schmelzen, die man zum Polieren verwendet und nicht zuletzt die Flüche meines Vaters. Über all diese Geräusche erhebt sich majestätisch der Lärm des Ofens, der die Bronze einschmilzt. Das war um 23:45 des 31. Dezember 1999 die Hintergrundmusik in der Gießerei.
Als dann der Moment des Schmelzens gekommen war, geschah, was zu diesem Anlass immer geschieht: alle Geräte kommen zum Stillstand, Arbeiter und Künstler stellen sich rund um den Ort, wo geschmolzen wird (seinerseits wieder ein großes Loch, in dem die Formkästen liegen, die gegossen werden sollen), dann wird noch der große Ofen ausgeschaltet und die Gießerei versinkt in tiefste Stille (ah, ich vergaß: zu diesem Anlass verstummten auch die Flüche meines Vaters). Wenige Minuten fehlen noch bis Mitternacht, die Bronze wird aus dem Ofen in den Schmelztiegel (eine Art großer Tasse) umgegossen, und man hört nur das Geräusch des fließenden Metalls. Dann wird der volle Schmelztiegel wie gewöhnlich über den jeweiligen Formkasten gehoben, und über die Stille legt sich noch das Schweigen der Erwartung.
Jemand zählt die Sekunden rückwärts: 4 – 3 – 2 – 1… . Unter den gebannten Blicken fließt die Bronze in das Loch des Formkastens, während draußen der Lärm des Jahrtausendfeuerwerks losgeht. In der Gießerei ein gleichsam religiöses Schweigen, draußen der Krach der Neujahrsfeiern. Das erste Mal: innen die Stille außen der Lärm. Die Gießerei wird zu einem »Loch aus Schweigen« im Höllenlärm der Millenniumsböller.
Ja, ich denke, der einzige stille Ort zu Beginn des dritten Jahrtausend war die Gießerei meines Vaters.