Von Luciano Caprile
Künstler neigen dazu, ihre schöpferischen Eigenheiten über Formverwandlungen ins Werk zu setzen, die bisweilen das Schaffen selbst zum Gegenstand haben. Das gilt vor allem für jene Maler, die ihre eigenen Kreaturen in Gedanken und unter den Händen derart haben wachsen sehen, dass sie diese nicht mehr in den Grenzen eines Bildes halten konnten, wie groß dieses auch sein mochte. Hier entstand dann das Bedürfnis nach einer dritten Dimension: es wurde ein neuer Raum notwendig, in dem das Neue Luft zur Entfaltung hat. Im vergangenen Jahrhundert machten so wichtige Künstler wie Pablo Picasso oder Joan Miró diese Erfahrung, als sie diesem Bedürfnis nach Entgrenzung mit Installationen von gefundenen Objekten bzw. deren Ausformung in Bronze beikamen. Noch heute stellt uns Fernando Botero die Gegenstände seiner Werke alternativ als Skulptur und auf dem zweidimensionalen Raum der Leinwand und des Papiers vor. Ähnliches lässt sich von Mimmo Paladino, Bruno Ceccobelli, Tommaso Cascella und von vielen anderen sagen, die sich auf mehrere unterschiedliche Ausdrucksformen einer Idee einlassen, um sie als das Sichtbarwerden einer Bewegung auszulegen.
Auch Carin Grudda geht diesem Entstehungsprozess seit einigen Jahren nach, um ihn dann in eine Welt aus glaubhaften Erzählungen und Fabeln zu übertragen.
Bei Carins Herangehensweise an ein Kunstwerk und wie sie es in eine ungewohnte Umgebung hineinstellt ist es, als erzeuge sie so etwas wie eine Hoffnung auf Einsicht in die Dinge, die einem einfachen Stück Holz anhaftet, wenn dieses aus einem anderen Lebens- oder Gebrauchszusammenhang kommt. Was eine Tür war, oder der untere Teil einer Banktruhe oder die verkratzte Struktur eines Tisches ruft auf diese Weise Erinnerungen an Formen und Figuren mit archaischem, primitivem Charakter hervor; gleichzeitig sind diese Formen in das ursprüngliche Licht der Verzauberung getaucht. Sie lassen Parallelen zu bestimmten ungezügelten Ausdrucksformen des »Art Brut« zu, wie sie von Jean Dubuffet immer wieder gestaltet und verteidigt wurden und erinnern gleichzeitig an die intensiven Erlebnissen der frühesten Kindheit, wo jedes Zeichen eine Geschichte aufruft und wo die Gesamtheit der Zeichen eine Welt bedeutet, in der das Staunen noch zu Hause ist und Schritt für Schritt ausgekostet wird: eine Welt, die nur von Kindern im magischen Alter in ihrem ganzen Ausmaß erfahren werden kann. Indem Carin auf dem Weg von Dubuffet, Miró und bestimmten Werken mit expressionistischen Einflüssen und Elementen der Eingeborenenkunst aus dem Umkreis der Cobra-Gruppe weitergeht, beschwört sie den Zauber einer von Kunstfertigkeit und Kompositionskraft getragenen Bilderwelt, der in der Lage ist, eine Bewegung mit dem ihr folgenden (oder sie vorwegnehmenden) Staunen zusammenzubinden. Carin holt aus jedem Eintauchen in Ursprungszeiten und primitive Ekstasen eine Welt hervor, auf deren Grundlage wir von neuem fühlen können wie einst.
Das erklärt auch die Andachts-Stationen, die den Betrachter in Form von gestalteten Pfählen entlang des Weges erwarten, der zu Carins Wohnatelier von Lingueglietta führt, auf den Bergen des äußersten Ausläufers von Ponente Ligure, der schon nach Frankreich hinüberschaut. Und er darf nicht überrascht sein, wenn er hier sogar totemische Elemente vorfindet, die sich im Schwung der Eingebung (denn so drängt sich eine Idee auf, die augenblicklich in ein Bild umgesetzt werden will) auf den schmalen, grünen, dem Fels zu trockenem Olivenstandort abgetrotzten Terrassen zusammengefügt haben. Eben diese Welt scheint auch in der überdimensionalen Skulptur BLAU MIAU auf, wo sich im Blau des schmalen eleganten Körpers das Verlangen abbildet, in jugendlicher Anmaßung den Himmel zu erobern. Auch wenn man dann die auf Holzstücken erfundenen Farbmärchen nicht immer so einfach aufgeben mag, wo die Unmittelbarkeit eines Traums oder einer poetischen Anwandlung in den Raum geschrieen werden will und jedes planmäßige Fortschreiten zunichte macht. Doch das ist Carin Grudda: sie ist in der Lage, den Kern der Erfindung in das Arrangement unterschiedlichster wiederverwerteter Elemente hineinzulegen, um daraus spartanisch anmutende, an die Arte povera erinnernde Werke entstehen zu lassen (wie zum Beispiel die aus Holz gefertigten ZWÖLF STELEN mit den daran angebrachten Objekten und die elementaren HOMMAGEN AN BEUYS). Es ist, als tue sie sich mit der Einfalt des Staunens an, um dann unter den Händen die Ausflüsse eines kombinatorischen Spiels wachsen zu sehen, das sich aus ungestümer Kreativität speist, sich mit immer wieder aufflammender Phantasie beflügelt und mit großer Kunstfertigkeit so angeordnet wird, dass das so Erfahrene sich zusammenfügt und -hält. Nur so konnte 2005 aus einem alten Tisch KATERLIESCHEN entstehen, ein Gemälde mit archaischem Charakter aber in modernster Ausführung. Dieses Bild erinnert das Ursehnen aus den Tiefen der Seele eines frühen Appel oder Corneille, das Carin hervorlockt und dahingehend abwandelt, dass es als Aktualität einer Welt lesbar wird, der die Freude der Verzauberung wiedergeschenkt werden muss – ausgehend von der Feststellung, dass hier die Bildlichkeit abhanden gekommen ist oder sich verbraucht hat. Ähnliches lässt sich vom zeitgleich entstandenen Werk mit dem Titel ÜBER DIE LIEBE UND ANDERE DÄMONEN sagen: Mehrere Erzählungen wohnen hier nebeneinander im Körper einer gekrönten Matrone und machen ihn zu einer gleichermaßen annehmenden und widersprüchlichen Welt, deren Geschichten die Farben einer nur in Bildern sagbaren Wirklichkeit haben. Und das gilt ja auch für alles, was unter dem Eindruck der Liebe entsteht.
Auch an GEBURT DES PEGASUS lässt sich das beobachten, einer sanft berührenden Beschwörung, in der das Gemalte sich in immer feinerer Strichführung auflöst und zur Gegenstandslosigkeit neigt – wie die Idee, die das Bild über die Leinwand hinaus führt. In Analogie dazu hebt die Skulptur den Gegenstand der Bilder hinweg und verwandelt ihn dauerhaft in eine Erzählung aus Luft, deren Inhalt im Gewand der Wirklichkeit daherkommt, doch mit dem ihr eigenen Maß: das wird besonders an dem eindrucksvollen, mehrteiligen Brunnen deutlich, der 2007 für Carins Geburtsstadt GUDENSBERG entstanden ist. Hier speien Bronzeschweine Wasser, und Frösche klettern durch Bäche.
Wenige Schritte entfernt stehen sich in einer weiteren, früher entworfenen Wasserinstallation zwei große königsgekrönte Vögel auf zwei Stufen gegenüber und lassen in rhythmischen Abständen Wasserstrahlen aus ihren Schnäbeln steigen. In Ingelheim auf dem Friedrich-Ebert Platz steht seit kurzem ein von einem lachenden Kelch-König gesteuertes Schiff auf Rädern. Dieser König hält den Leuten sein Herz in einem Hin und Her aus hellen Strahlen und Spritzern entgegen, welche von oben und allen Seiten das Bild der Verzauberung zurückwerfen und greifbar machen wie einen Traum, der im Moment seiner Betrachtung lebbar wird.
Unter diesen Umständen kann der Besucher im Inneren des Werkes die Rolle einnehmen, die er sich wünscht: bei Carin ist es möglich – oder sogar nötig – wenigstens für Augenblicke die vergessene Freude der Verzauberung von neuem zu erleben. Eine Verzauberung, die man leicht auch im GROSSEN KÖNIG aus dem vergangenen Jahr wiederfindet wie in allen anderen großen und kleinen Königen aus Carins Werken, die in jeder Umgebung das Staunen der Anwesenden zu wecken vermögen.
Bei Carin beschreitet man immer einen imaginär vorgezeichneten Weg durchs Labyrinth, der an den Ursprung zurückführt: an jene Inspirationsquelle, aus der wir alle mehr oder weniger bewusst die Fähigkeit zum Staunen geschöpft haben, als in unseren ersten Jahren ursprünglichen Daseinsbewusstseins die umgebende Wirklichkeit noch eine phantastische Entdeckung war, die es Schritt für Schritt, Blick für Blick zu erobern galt. Und die wir in dem Moment verloren haben, in dem wir uns anmaßten, die Welt zu kennen und meinten, sie uns zum eigenen Nutzen und Gebrauch zurechtlegen zu können.
Durch Carin erlangen wir die Gabe des Staunens unversehrt wieder – mit unvergleichlicher Frische im Ausdruck und in einer spiegelhaften Reinheit, die nicht getrübt werden darf von einer an der Oberfläche haltmachenden Betrachtung und der bloßen Gefälligkeit, die von den Erscheinungen ausgeht. Im magischen Kern der Dinge, im Wechselspiel von Form und Erzählung selbst liegt der Schlüssel zu unserer existenziellen »Erholung«. Möglich, dass sich das auf eine momentane Erleuchtung beschränkt; aber es reicht ja schon, wenn Geist und Sinne zum Fest geladen sind, damit sich ein Weg zu den eigenen Wurzeln auftut. Dank der Werke von Carin Grudda wird all das möglich – und zwar mit einer absolut natürlichen und dabei vollkommen unerwarteten Unmittelbarkeit. Für Carin Grudda hält der Zauber an – und damit auch für uns.
Luciano Caprile