Essay von Luciano Caprile
»Die Idee des Zufälligen, die damals viele beschäftigte, hatte auch mich beeindruckt. Dahinter verbarg sich vor allem die Absicht, die Hand zu vergessen, weil ja im Grunde genommen auch die Hand ein Produkt des Zufalls ist. Das Zufällige interessierte mich lediglich als Mittel, um gegen die logische Wirklichkeit anzugehen: Etwas auf eine Leinwand bringen, auf ein Stück Papier, die Idee eines Fadens, der aus einem Meter Höhe auf eine horizontale Fläche fällt, mit der Idee von dessen Deformation assoziieren …«¹.
So beschrieb Marcel Duchamp, in einem Interview mit Pierre Cabanne 1977, seine ersten Erfahrungen mit dem objet trouvé.
Die Idee des Zufalls indes ist freilich nicht neu. In der Kunst hat sie schon immer eine wichtige Rolle gespielt:
Man denke beispielsweise an Leonardo, der zuweilen kreative Anregungen in den bizarren Formen des Wandschimmels suchte. Oder an den Picasso des »ich suche nicht, ich finde«, der mit Wasser verdünnte Tinte auf Löschblättern verlaufen ließ, um in den zooanthropomorphen Flecken, die sich auf diesem Wege bildeten, seine Inspiration zu finden.
Für den Künstler von heute hat sich daran nichts geändert: Das Geheimnis des Unwägbaren und Unverhofften, das Geheimnis eines Gestus, der in der Begegnung mit dem unbewusst gewählten Gegenstand die Vorzeichen desselben, sich selbst und das Leben des Künstlers verändert, steht nach wie vor zur Verfügung.
Dies weiß sehr wohl Carin Grudda, die im Kielwasser dieser Prämissen zu einer Kunst gefunden hat, in der Begriffe wie Erfindung, Überraschung, Verwandlung sowie durch Zufall provozierte Selbstoffenbarungen von zentraler Bedeutung sind. Kein Wunder also, dass ihre Recherche an Dada, Art Brut und Pollocks Action Painting anknüpft und sich überhaupt auf Richtungen beruft, denen das Spiel, der ungeschulte, befreiende Ausdruck des Kindes, die geheimnisvolle Wesentlichkeit archaischer Riten heilig sind. Und nicht zufällig sind ihre authentischsten, spontansten und betroffensten Arbeiten – im Hinblick auf Farbe, Konzept und Gefühl – entstanden unter den alten, eigenwillig und bizarr gewachsenen Olivenbäumen von Lingueglietta, in einer grünenden, zum Meer hin geöffneten Talmulde am äußersten Rand der westlichen Riviera, wo den »Würfen« der Natur jeder erdenkliche Schutz und Anhaltspunkt gewährt wird. Carin, die einst im Norden Deutschlands zu Hause war und in ihrem Gepäck die um zahlreiche Auslandserfahrungen bereicherte Kultur ihrer Heimat mit sich führt, hat in der mehrjährigen Beziehung zu diesem herben, verführerischen Stück Erde insofern sich (bzw. zum authentischsten Teil ihrer selbst) gefunden, als diese Erde Werte zu Tage fördert, die andernorts, abseits der Zurückgezogenheit und Stille, nur schwerlich greifbar sind.
Es reicht ein Blick auf die Felsen und schmalen Erdstreifen dieser Landschaft, auf einen Gegenstand, wie man ihn hier auf jeder beliebigen Wegstrecke auf-lesen könnte, um die wertvollen »Fingerzeige« des Zufalls zu gewahren, um den Tiefen der Seele schlichte, absolute Bilder zu entlocken, die in der Blindheit des Alltags gemeinhin vernachlässigt werden oder verschüttet bleiben.
Durch die Betrachtung dieser Natur ist in ihr das Verlangen entstanden, die ständige Metamorphose, notwendig für die Erneuerung jeder Existenz, zu übersetzen in Holz und Eisen, auf Papier, auf Leinwand. Auch die Kunst hat sich durch Infragestellung ihrer selbst diesem Prozess zu beugen. Erneuern bedeutet für sie zerstören, Störungen in das Gewohnte hineintragen. Sie sagte einmal:
»Stören heißt für mich, auf den kleinen Gefühlen bestehen, auf der kleinen Ebene, die nicht funktioniert, auf einer Empfindsamkeit, die außer Kurs geraten ist«. Es gilt von vorn zu beginnen, zu den Ursprüngen zurückzukehren, zu den archaischen Gesten der ersten Menschen und dem Kunstverhalten frühester Kindheit; Verbindungen wiederherzustellen zu authentischer Sensibilität, zu emotionaler Transparenz, zu unmittelbarem Erstaunen.
Joan Mirò, und neben ihm viele andere, begeisterte sich für die Zeichnungen von Kindern im Vorschulalter, einer Zeit unseres Lebens, in der wir alle große Künstler sind. Carin Grudda versetzt sich in dieselbe geistige Lage und Verhaltenssituation, empfangsbereit für die mannigfachen Eingebungen, die ihre verzauberte Welt ihr zuspielt. Sie sieht und macht sich zueigen, was andere beobachten, jedoch nicht sehen, aus den Dingen und der Luft filtert sie Emotionen heraus, die der oberflächlichen Wahrnehmung der Mehrheit entgehe. Sie erntet Gold, wo andere auf Erde treten, zeichnet Zauberpfade in den Weg, die gewöhnlich nur die Müllabfuhr befährt. So bewahrt Carin Grudda die Mythologie, die große Mythologie der Vergangenheit und verbindet sie mit den Kosum-Mythen von heute: so wird die Ovidsche Metamorphose konfrontiert mit Dubuffet, Duchamp, Spoerri und Claudio Costa. Die Skulpturen und bemalten Objekte, die unsere Stationen im Park wie auch im Innern des Hauses bestimmen, sind folglich nicht nur eine Hommage an einzelne Meister, die als vorbildhaft empfunden werden, sie manifestieren sich auch als entschiedene Absichtserklärung. Hier liegt die Vergangenheit aller begründet, scheinen sie zu sagen, von hier kann die Idee einer Zukunft ausgehen.
Bei dieser Recherche, die sich auf ihre Arbeiten der letzten Jahre bezieht, ist es also nicht möglich, den Gestus vom Bildträger zu unterscheiden, sprich vom Gegenstand, der diesen Gestus provoziert hat. Nehmen wir die Serie der bemalten »Türen«, deren Struktur die Gestaltung vertikaler Figuren nahe legt. Diese Figuren passen sich vorzüglich an die ursprüngliche Morphologie der Tafeln, an die prekäre Beschaffenheit der Leisten an und finden auf diesem Wege zu einer ebenso unverhofften wie außerordentlichen bildlichen Suggestion. So dass ein Arm aus einer Traverse wachsen und durch das Halten einer Blume primitive Ausdruckskraft erlangen kann. Es ist eine Gestalt in Blau-Weiß, wesentlich und magisch wie die Graffiti, die spontan an den »Wänden der Ewigkeit« entstanden sind (indes das blütenweiße Oval des Gesichts darauf wartet, vom Schnabel eines Vogels angegriffen zu werden, ist der Fuß bereits dabei, den Rahmen der Szene zu verlassen).
Ein anderer Protagonist, durch die Nagel/Haar-Sequenz rauer in der Ausstrahlung, benutzt den Türrahmen eines Schrankes als eherne Einfassung für das Gesicht; einmal am metallenen Doppelhals festgehakt, verschmilzt der Rumpf mit der essentiellen Struktur und den rostigen Markierungen des Rests: fast ein »ready-made«.
Dazwischen gibt es Fantasieflüge zu Spuren und Zeichen von Dingen, die nicht mehr sind, dennoch nicht ignoriert werden dürfen; sie stellen im Gegenteil die unverzichtbare Wegzehrung dar, um, wie bei Carin Grudda der Fall, mit Gewinn das Reich der Kreativität zu bereisen. Doch können auch scheinbar nebensächliche Fragmente blitzartig zu einer Idee führen. So wird aus einem verschrotteten Stück Sperrholz, unter Zusatz eines »gefundenen« Kopfes und einer angeklebten Kordel als Schwanz, ein Tier mit fünf Pfoten.
Ganz ähnlich verhält sich eine zerfressene Mondsichel, die, durch Farben festlich belebt, einen dreibeinigen Krieger von erstaunlicher Ausdruckskraft hervortreibt. Beispiele gibt es viele. Festzuhalten bleibt, dass all dieses Zusammenfinden und Machen jeglicher Absicht entbehrt: Was immer Grudda mit den gefundenen Gegenständen realisiert, mit den Farben und Zeichen, die sie begleiten, es geschieht nie in Avisierung eines vorgefassten Titels oder eines partout zu erzielenden Resultats.
Ab 1998 nähert sich Carin Grudda der Bildhauerei und deren Herausforderungen. Ein erstes Echo zeigt sich zunächst in der Malerei, in den sogenannten Eisenstrukturen: gefundene Gegenstände, die, assembliert und zusammengeschweißt, den Rahmen und das Rollengestell zu den Gemälden bilden. Es ist die Geburtsstunde der TRAGBAREN ENGEL. In der Zwischenzeit lernt sie in der Gießerei Pietro Caporrella in Torrita di Siena die Techniken des Bronzegusses kennen und begeistert sich für die zahlreichen kompositorischen Möglichkeiten, die sich ihr dadurch erschließen. Ab diesem Zeitpunkt schlägt die parallel zur Malerei fortgeführte Bildhauertätigkeit zwei unterschiedliche Richtungen ein.
Die erste betrifft jene Dimension des Phantastischen, die wir bereits von früher her kennen, nämlich von den Holzobjekten. Gemeint sind insbesondere die märchenhafter Imagination verpflichteten modellierten Skulpturen PEGASUS und ZERBERUS sowie andere, surreal anmutende Figuren, die vom Reiz überaus originell assoziierter Materialien leben.
Die zweite impliziert eine Werkausrichtung, die stärker das Konzeptionelle betont. Hierbei bewahren die Gegenstände zwar ihre Funktion, erfahren aber eine Sinnverwandlung, die das Umfeld verändert, mit dem sie in Kontakt kommen bzw. in Konflikt geraten. Beispiele sind die HOMMAGE AN BEUYS sowie die Serie der in Bronze gegossenen Fundstücke (SPURENBILDER) vom Strand, Zeugnisse einer Zeit, die in einem ebenso langsamen wie unaufhörlichen Werden begriffen ist. Die kleine Erinnerung an das Nebensächliche ersetzt das große Gedächtnis der Ewigkeit.
Carin Grudda sät und gibt zurück, was der Tag ihr schenkt, was die Neugierde sie Stunde um Stunde entdecken lässt.
Und genauso wie sie Zinkbleche übers Kopfsteinpflaster schleift, um sie der Kontaminierung des Zufalls auszusetzen, bevor die Gravur der eigenen Erzählung beginnt, genauso lebt sie auch ihr Leben: in Erwartung unverhoffter Überraschungen, in Erwartung eines Wunders, das sich jeden Tag erneuert. Mit dem Licht der Sonne und der Verheißung des Abends, die das Quaken der Frösche heraufbeschwört, als wäre es eine ihrer phantastischen Geschichten.
All dies geschieht in Lingueglietta dank Carin Grudda – nur einen Augenblick vom Meer entfernt.
Juni 2003
¹ Marcel Duchamp, Ingegnere deI tempo perduto, Multiphila Edizioni,
Milano, 1979